Debatte über "polizeilichen Notstand" in Heidenau: Fußball oder Flüchtlinge?

  • Der für die sächsische Kleinstadt Heidenau zuständige Landkreis hatte für dieses Wochenende alle Versammlungen verboten und dies mit "polizeilichem Notstand" begründet.
  • Die Entscheidung, die das Verfassungsgericht gekippt hat, sorgte für Empörung - und wirft die Frage auf, was die Polizei leisten kann.
  • Besonders die Einsätze bei Spielen der Fußball-Bundesliga belasten die Beamten.
  • Hier finden Sie alle SZ-Berichte über die fremdenfeindlichen Krawallen in Heidenau.

Von Jannis Brühl

Der Satz ist eine Kapitulation: "Danach sind die zur Verfügung stehenden Polizeikräfte nicht in der Lage, der prognostizierten Lageentwicklung gerecht zu werden", hieß es vor den angekündigten Demonstrationen aus dem Landratsamt Pirna. Bedeutet: Der Staat sei überfordert. Deshalb müsse ein Grundrecht eingeschränkt werden, das Recht auf Versammlungsfreiheit. Keine einzige Demonstration sollte an diesem Wochenende in Heidenau stattfinden.

Es kam im letzten Moment anders. Das Verwaltungsgericht Dresden hielt die Entscheidung für rechtswidrig, wollte alle Demos erlauben. Auch die, die sich gegen die Flüchtlingsunterkunft in der sächsischen Stadt richten sollten. In einer weiteren Instanz gab das sächsische Oberverwaltungsgericht dem Recht, aber nur in Bezug auf eine Veranstaltung: das Willkommensfest für Flüchtlinge, das zu diesem Zeitpunkt am Freitagabend schon in vollem Gange war. Es blieb friedlich, die Polizei verwies lediglich 100 fremdenfeindliche Demonstranten und Schaulustige von einem Parkplatz gegenüber des Heims. Am Samstag wurde das Versammlungsverbot komplett aufgehoben - vom Bundesverfassungsgericht.

Trotzdem stellte sich zunächst die Frage: Kann die deutsche Polizei Ausländerfeinden nicht mehr die Stirn bieten? Kann sie die Flüchtlingsunterkunft und das Willkommensfest nicht schützen? Dass in Pirna der "polizeiliche Notstand" ausgerufen worden war, hatte Empörung hervorgerufen. Die Linke-Bundesvorsitzende Katja Kipping sprach von einem Notstand der Demokratie, wenn die Solidaritätsdemo nicht geschützt werden könne. Der Chef der Gewerkschaft der Polizei, Jörg Radek, sprach vom "Kniefall vor dem Mob". Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) begrüßte später, dass das Verbot doch noch gekippt wurde.

Mit der gestiegenen Zahl von Flüchtlingen rückt nun auch die Debatte in den Fokus, wofür die Polizei zuständig sein soll und wofür nicht - und ob sie das alles leisten kann.

Bundeskanzlerin besucht Flüchtlingsunterkunft Heidenau

Polizisten in der Nähe der Heidenauer Flüchtlingsunterkunft während des Besuches von Bundeskanzlerin Merkel am Mittwoch.

(Foto: dpa)

Polizeilicher Notstand ist, wie das Bundesverfassungsgericht 2001 urteilte, dann gegeben, wenn "die Verwaltungsbehörde nicht über ausreichende eigene, eventuell durch Amts- und Vollzugshilfe ergänzte, Mittel und Kräfte verfügt, um die Rechtsgüter wirksam zu schützen". Die Rechtsgüter, die in Heidenau dem Landratsamt zufolge gefährdet sein sollen, sind: "insbesondere Leben und Gesundheit von Teilnehmern öffentlicher Versammlungen, Unbeteiligten aber auch der zum Schutz von Versammlungen eingesetzten Polizei- und Ordnungskräfte".

In Sachsen gibt es 10 865 Polizisten, sechs Prozent weniger als noch 2010. Das Innenministerium in Dresden verwies darauf, dass an diesem Wochenende neben den Versammlungen in Heidenau auch Fußballspiele und das Altstadtfest in Görlitz gesichert werden. Also wurden andere Bundesländer um Hilfe gebeten. Doch die meisten sagten Zeit.de zufolge ab, wegen Einsätzen bei Demonstrationen gegen Flüchtlingsheime oder Fußballspielen auf eigenem Boden. Nur Brandenburg schickt am Sonntag eine Hundertschaft. Außerhalb Sachsens wurden keine totalen Versammlungsverbote erlassen.

Polizisten leisten Schreibdienst im Flüchtlingsheim

Die Polizeigewerkschaften rufen seit langem nach mehr Personal. In den vergangenen Jahren sind Tausende Stellen abgebaut worden. Zwar verringert die Digitalisierung in vielen Bereichen den Verwaltungsaufwand. Aber als Grund für die hohe Belastung nennen die Beamten auch Profi-Fußballspiele.

Die Einsätze dort nerven viele Polizisten, sie häufen Überstunden an. Bekommt der Fußball also unnötig viel Aufmerksamkeit? Anlässlich der Pegida-Demonstrationen Anfang des Jahres sagte Rainer Wendt von der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) dem Tagesspiegel, bevor Demonstrationen abgesagt würden, müsse ein Fußballspiel geopfert werden: "Fußball ist kein Grundrecht." Im Winter verboten sächsische Behörden antiislamische Kundgebungen in Dresden und Leipzig ebenfalls mit dem Verweis auf "polizeilichen Notstand". Das Land Bremen liegt mit der Deutschen Fußballliga im Streit, weil die Behörden der DFL Teile von Einsatzkosten in Rechnung stellen.

In Nordrhein-Westfalen gibt es viel zu tun: Mehr als zehn Fußball-Profiklubs, Rockerkriminalität, Neonazis, Salafisten, dazu massiv gestiegene Einbruchszahlen - und die Flüchtlinge. Aus seinen 18 Hundertschaften hat das Land 100 Beamte abgezogen und mit Laptops in Flüchtlingsheime geschickt. Dort sollen sie helfen, die Asylanträge zu bearbeiten, die sich im System des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge stauen.

Aber Nordrhein-Westfalen reagiert und kommt den Polizeigewerkschaften entgegen. 1900 Polizeibewerber, so viele wie noch nie und deutlich mehr als ursprünglich geplant, sollen in diesem Jahr zugelassen werden, berichtet die Westdeutsche Allgemeine Zeitung an diesem Samstag. Vor einem Jahr begann das Land zudem damit, bei Bundesliga-Partien, die nicht als "Risikospiele" gelten, ein Fünftel weniger Polizisten einzusetzen. Bei diesen Spielen wurden die Fans zum Beispiel nicht mehr von Polizisten zum Stadion eskortiert, was sonst viele Beamte bindet.

Im Falle Heidenaus hat Bundeskanzlerin Merkel zugesagt, die Bundesregierung werde "alles tun, um in dem Maße, wie er helfen kann, die sächsische Polizei zu unterstützen". Allerdings hat auch die Bundespolizei, die dem Innenmnisterium in Berlin untersteht, viel zu tun. Sie muss den Kräften der Länder an den Stadien helfen und greift jeden Tag Hunderte von Flüchtlingen an den Grenzen und Bahnhöfen auf, um sie zu erfassen.

Für Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger (SPD) ist das Pilotprojekt, weniger Polizisten bei als weniger riskant eingeschätzten Fußballspielen einzusetzen, ein Erfolg. Das sehen nicht alle so. Die von CDU und CSU geführten Landesinnenministerien sind Jägers Beispiel nicht gefolgt. Sie halten die massiven Polizeieinsätze für nötig, um Hooligans unter Kontrolle zu halten. In Zeiten steigender Angriffe auf die Unterkünfte für Asylbewerber dürften die Fragen "Fußball oder Flüchtlinge? Oder beides?" nun neu verhandelt werden.

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